Cover
Titel
Das Tagebuch 1880–1937. Gesamtausgabe in 9 Bdn.


Autor(en)
Kessler, Harry Graf
Herausgeber
Kamzelak, Roland S.; Ott, Ulrich
Reihe
Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft 50
Erschienen
Stuttgart 2019: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
9.100 S., 9 Bde.
Preis
€ 525,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Die Lektüre der Tagebücher von Harry Graf Kessler (1868–1937) wird jeden, der nicht an die Wandlungsfähigkeit von Menschen glaubt, vom Gegenteil überzeugen. Im Alter von zwölf Jahren begonnen, bieten die nur selten unterbrochenen, fast täglichen Aufzeichnungen über 57 Jahre einen einzigartigen Gang durch die Zeiten. In seinen Dimensionen ist das Unternehmen vergleichbar mit nur wenigen anderen Tagebüchern, mit dem Samuel Pepys etwa im 17. Jahrhundert, mit dem Ferdinand Benekes, begonnen ein knappes Jahrhundert vor Kessler, mit dem Thomas Manns, wenn seine Aufzeichnungen uns in der Form überliefert wären, wie wir sie für die Zeit vom September 1918 bis Dezember 1921 kennen, oder endlich dem des großen Chronisten des Lebens in drei deutschen Staaten, Victor Klemperer. Von der Jugendzeit eines jungen Aristokraten in einem englischen Internat und am Hamburger Johanneum über die Studienjahre des künftigen Juristen in Bonn und Leipzig bis zu einer Weltreise, vom Museumsdirektor und kosmopolitischen Kunstmäzen bis zum 1914 wohlgemut den Krieg Begrüßenden, 1918 sich dann aber zum überzeugten Republikaner Wandelnden, der gar zum Pazifisten wird und 1937 als unbeirrbarer Antifaschist im französischen Exil stirbt, sind hier nur wenige Stationen im Leben Kesslers zu nennen, eines hochgebildeten Förderers der Künste, der auch als Diplomat, Publizist und Schriftsteller wirkte.

Das Tagebuch bringt dem Leser teils in Alltagsbeobachtungen, teils in überaus scharfsinnigen Analysen, Erlebnis- und Persönlichkeitsschilderungen ein aufregendes, durch Widersprüche geprägtes Leben in einzigartiger Weise nahe. Kessler war ein stupend kontaktfreudiger, zugleich vermutlich einsamer Mensch, seine Bekanntschaften sind von einer enormen Spannbreite unterschiedlicher Charaktere und Weltanschauungen. Weit mehr als 10.000 Menschen notiert der Chronist namentlich, darunter zahllose bedeutende Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Gesellschaft. Mit Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke, Annette Kolb, Max Reinhardt, Gordon Craig, Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schröder, Anton Kippenberg, Auguste Rodin, Max Liebermann, Edvard Munch, Wieland Herzfelde, George Grosz, Vincent van Gogh, Paul Verlaine, Josephine Baker, Richard Strauß, Paul von Hindenburg, Albert Einstein, George Bernhard Shaw, Jean Cocteau, Erich Ludendorff oder Maximilian Harden seien nur einige wenige besonders prominente Namen genannt, zu denen Kessler engste, oft freundschaftliche und von gegenseitigem Respekt getragene Beziehungen hatte.

Nicht allein Kultur- und Kunsthistoriker kommen mit den Tagebüchern umfassend auf ihre Kosten, nein, der Quellenwert bezieht sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Dem Leser wird ein Blick in die versunkene „Welt von gestern“ geschenkt, auch auf deren Zerstörung durch ihre Eliten im wilhelminischen Deutschland, das Ringen um eine demokratische Ordnung nach 1918 und die Katastrophe der Jahre ab 1933. Diese ist nach Kesslers Überzeugung herbeigeführt durch das Versagen eines deutschen Bürgertums, das er geprägt sah durch allgemeine Servilität und Rückgratverkrümmung, und eine Folge des geistigen Klimas in den zahlreichen kleinen deutschen Residenzen, die seit dem 18. Jahrhundert als regionale Kulturzentren zwar viel Gutes für die allgemeine Bildung in Deutschland getan, aber für die politische Kultur des Untertanengeistes wie Pestzentren gewirkt hätten (VIII, S. 540).

Kesslers Tagebuch ist weit mehr als eine Chronik. Immer wieder wird großer Lesegenuss geboten. Bloßes Verzeichnen von Geschehnissen wechselt mit intelligentem Beobachten, gekonnten Reiseberichten, aufschlussreichen Analysen und immer wieder beeindruckend gesponnenen Erzählungen höchster literarischer Qualität. Großartige biographische Porträts charakterisieren zahllose bedeutende Persönlichkeiten aus nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Mit großer Treffsicherheit urteilt er aus der Distanz und als elitärer Außenseiter, der so recht nirgendwo dazugehört, aber stets in den Zentren des kulturellen und politischen Geschehens zu finden ist (sein Traum, englischer Botschafter zu werden, scheitert indes am Widerstand des Auswärtigen Amtes gegen den ihn befürwortenden Stresemann).

Über Kessler und sein Tagebuch ließen sich mehrere Monographien verfassen. Germanisten bereiten Lektürekommentare wie „solches Deutsch müsste in Tertia mit dem Stock ausgetrieben werden“ (I, S. 619) Freude, Theaterhistorikern die zahllosen Berichte von Aufführungen und Beobachtungen etwa bei Hauptmanns „Webern“, wo sich mit Brillanten geschmückte Finger zum Applaus regen (II, S. 281f.), Musikhistoriker interessiert das Urteil, Wagner habe in der Instrumentation von Mendelssohn ungeheuer viel gelernt (I, S. 612), Erforscher historischer Mentalitäten unterrichtet die Schilderung des juristischen Examens von Prinz Max von Sachsen darüber, dass dieses nicht nur „ziemlich leicht“ gewesen sei, sondern auch statt des Kandidaten die Professoren den Prüfungsraum zur Beratung des Prüfungsergebnisses verlassen hätten (I, S. 608), Wissenschaftshistoriker werden zahlreiche prophetische Überlegungen zur Nutzung von Meereskraft und Sonnenenergie mit Interesse lesen, die im Zusammenhang mit Kesslers Nachdenken über die Lösung der sozialen Frage referiert werden (I, S. 568, 602, 608), Literaturhistoriker fordert die Beschreibung des Wohnhauses Goethes zum Nachdenken, an die sich die Frage knüpft, ob Dichter vielleicht „gerade wegen der Erbärmlichkeit ihrer Umgebung“ das Bedürfnis entwickelt hätten, „in ihren Träumen alle Schönheit der Antike und der Renaissance zu verwirklichen“, nichts gäbe von der Ärmlichkeit der deutschen Verhältnisse ein besseres Bild als die Häuser von Goethe und Schiller (I, S. 586), Philosophiehistoriker werden Kesslers Gedanken im Anschluss an seine Schopenhauer- und Nietzsche-Lektüre anregen, Historiker und Politikwissenschaftler mit Gewinn lesen, was Kessler über seine Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten wie Bismarck, Ebert, Rathenau oder Stresemann zu berichten weiß, Kunsthistoriker finden zahllose Beschreibungen und originelle Reflexionen zu Kunstepochen und Kunstwerken jeder Art, sodass die Tagebücher – passim, aber extrem in Band 3 – als Lehrbuch zur Kunstgeschichte rezipiert werden können, auch die Beschreibungen und Gedanken zur Architektur sind anregend, ebenso zum Umgang des Menschen mit der Natur.

Fast immer ist geistreich, was Kessler zu berichten weiß. Selten sind groteske Fehlurteile wie der „richtige Gedanke“, „dass eine deutsche Kultur sich nur auf den deutschen Offizierstand gründen“ könne (II, S. 390, 474, 428), häufiger sind sehr hellsichtige und kluge wie jenes über die als Agitationsmittel gebrauchten Begriffe „deutsch“ und „Deutschtum“, die man schwerlich „vor sich selbst ernst nehmen“ könne (III, S. 76). Die „Volksgemeinschaft“ gilt ihm als „politisches Ungeheuer“ (VIII, S. 689). Als Kosmopolit erlaubt er sich freie Urteile, über Heimatkunst und „Heimatschreier“ etwa heißt es abfällig, jede Kunst verwende zum großen Teil Wirkungsmittel aus der Fremde (III, S. 151, 517f.).

Kessler gibt wenig von seinem Innersten preis, nichtsdestoweniger meint man, ihn nach 9.000 Druckseiten intim zu kennen. Es formt sich das Bild seiner Persönlichkeit, die durch beständige geschäftige Geselligkeit ebenso geprägt ist wie durch Einsamkeit. Der Leser erlebt den Tagebuchverfasser als Genie der Kommunikation; überall in Europa hat er Zugang zu den kulturellen und politischen Eliten und ist ein willkommener Gesprächspartner. Dass er die Welt stets von oben sieht, gehört zu den Selbstverständlichkeiten seines Lebens, das durch ererbten Reichtum ebenso vorbestimmt ist wie durch das Geschenk einer umfassenden Bildung, die er im Lebenslauf beständig erweitert. Es ist ein merkwürdiger Kontrast, dass auch noch der für Republik und Demokratie Eintretende die politisch Agierenden stets als Aristokrat beurteilt (VIII, 318f.), wobei aber doch bemerkenswert ist, wie Kessler über die Jahre einen vorurteilsloseren und offeneren Blick auf Menschen und gesellschaftliche Umstände entwickelt.

Bemerkenswert, wie früh und sensibel Kessler den Vorschein kommender Katastrophen registriert, sei es der Erste Weltkrieg, die Seuche des Antisemitismus oder „1933“. Man spürt vor 1914 im Tagebuch die virulente Kriegslust und ein zunehmend unbekümmerteres Kalkulieren der Politik mit kriegerischen Mitteln. Mit den politischen und militärischen Eliten geht Kessler ins Gericht – „Der Kern ist faul, wie 1813“ (V, S. 220, 253) – und schildert die fast allgemeine Verkennung der Realitäten. Er selbst gehört zu denen, die wie Georg Simmel auf eine mystische „Innere Wandlung Deutschlands“ und einen durch den Krieg geschaffenen „neuen Menschen“ hoffen (V, S. 218), verbindet aber mit dem Völkerschlachten auch beständig höchst reale Ziele einer Weltmachtstellung Deutschlands und die Hoffnung auf bedeutende territoriale Gewinne (IV, S. 141, 532, 725, 760f., 778, 822, 855). Allerdings ist Kessler zu klug, um nicht auch Fragen zu formulieren wie die, ob der Krieg nicht, je länger er dauere, umso mehr zu einem „Kollektiv Verbrechen der europäischen Völker“ werde und eine „gemeine Sache“ sei „gegen arme wehrlose Kinder u Frauen“ (V, S. 269, 539). Das Schlimmste am Krieg scheint ihm, dass er die menschlichen Tiefen verschütte und verantwortlich sei für die allgemeine Verödung und Verflachung: „Blut ist noch verdummender als Alkohol. Wir Alle leben seit vier Jahren wie Besoffene“ (VI, S. 458). Mit dem Pazifisten der 1920er-Jahre erkennt man dann, dass, wo immer wieder vom Krieg geredet und gleichzeitig gerüstet wird, der Ernstfall nicht weit ist. Die Schuldfrage beschäftigt Kessler bis zum Lebensende.

Revolution, Bürgerkrieg, die Aussöhnungsbemühungen mit den Siegern des Weltkrieges, die von deutschnationalen Kräften sabotiert wird, und die Debatten um einen deutschen Beitritt zum Völkerbund erlebt Kessler engstens eingebunden in die deutsche Außenpolitik und im Kontakt mit dem innersten Kreis der deutschen Politik, seine genauen und umfassenden Berichte lassen den Leser zum Teilhaber am historischen Geschehen werden. Fast schon ermüdend, aber in einer wohl unübertrefflichen Intimität und Detailliertheit werden im Tagebuch über Jahre die diplomatischen Spielchen und Intrigen auf deutscher, französischer und englischer Seite geschildert, kaum ist für diese Themen eine profundere Quelle vorstellbar.

Die Tagebücher lassen etwa an den Überlegungen teilhaben, wie die Oktoberrevolution zu eigenen Zwecken instrumentalisiert werden könnte, oder an Debatten im Außenministerium, ob man die Sowjetregierung stützen oder eine „Randstaaten Politik gegen Russland“ machen solle (VII, S. 226). Am 24. Februar 1919 notiert Kessler in Weimar, er habe der Nationalversammlung am Regierungstisch beigewohnt (VII, S. 157 und 162). Das Notat charakterisiert fast sein ganzes Leben: Ohne eigene offizielle Funktion ist er stets dort zu finden, wo die wesentlichen Entscheidungen debattiert und getroffen werden, es gibt wohl kaum einen besser informierten und unvoreingenommeneren Beobachter der politischen Entwicklung nach dem Weltkrieg.

Beispiellos ist seine Radikalisierung nach 1918. Warum solle ein Graf nicht Spartakist werden, fragt er sich (VII, S. 123, 206f.). Eine ernstliche Sozialisierung gilt ihm als grundlegend für jegliche wirkliche Demokratisierung. Der sozialdemokratischen Regierung wirft er vor, durch leichtfertiges Lügen und Blutvergießen einen in Jahrzehnten nicht wieder zu heilenden Riss in das deutsche Volk gebracht zu haben, in drei Monaten habe sie mehr deutsches Blut auf den Straßen vergossen als sämtliche Hohenzollern in drei Jahrhunderten (VIII, S. 394; VII, S. 183 und 186, 185, 131).

1924 begreift Kessler es als sein eigentliches Lebenswerk, an vorderster Stelle dabei mitzuhelfen, Europa zusammenzuschmieden, innenpolitisch engagiert er sich unter anderem beim Reichsbanner, in der Deutschen Friedensgesellschaft und in der Liga für Menschenrechte für die Verteidigung der Republik, selbst für den Friedensnobelpreis wird er vorgeschlagen (VIII, S. 413, 715). Seine Kandidatur für den Reichstag, die mit einem intensiven Wahlkampf in der westfälischen Provinz verbunden ist, scheitert. Mehr und mehr verzweifelt Kessler an einer Republik und ihrer Justiz, die jeden rechten Mordschreier ungeschoren davonkommen lässt, auch registriert er die allgemeine „nationalistische Verblödung“ und die zu 90 Prozent deutschnationale Ausrichtung der Studenten, die einhergehe mit zunehmendem Antisemitismus nicht nur in akademischen Kreisen (VII, S. 312, 316, 529; IX, S. 159). Energisch engagiert Kessler sich gegen Hindenburg als Reichspräsident, als Folge seiner Wahl befürchtet er hellsichtig „eins der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte“ (VIII, S. 681).

In den Jahren vor 1933 kommt er in eine fast so verzweifelte Stimmung wie während des Zusammenbruchs im Kriege (IX, S. 377). Mit deutlichen Worten beschreibt er das Versagen des Bürgertums und der Sozialdemokratie, die Einheit der Arbeiterparteien erscheint ihm als einzige Möglichkeit, den Faschismus zu verhindern (IX, S. 390, 524). Im Exil dann erkennt er resigniert zwei Grundwesenszüge der Deutschen, nämlich die Flucht in die Metaphysik, in irgendeinen „Glauben“ und den Trieb zum Drill, zum Strammstehen und Kommandiertwerden. Auch weiß er schon im Februar 1933, dass alle Nichtnazis nun vogelfrei waren. Nur aus der Ferne kann er den „abscheulichen Juden-Boykott im Reich“ verfolgen und spricht von verbrecherischem Wahnsinn: „Es ist der grausamste Selbstmord, den ein grosses Volk je begangen hat“ (IX, S. 413, 541, 562). Im Jahr 1935 erkennt er, dass das schwerste Problem nach dem Sturz der Nazis der „moralische Wiederaufbau der deutschen Jugend“ sein werde (IX, S. 657f.).

Die Herausgeber des Tagebuchs haben keine historisch-kritische, auch keine kommentierte Ausgabe geschaffen, wohl aber bieten sie hinreichende Informationen zum Charakter des edierten Textes. Hier stehen die jedem Band beigegebenen ganz vorzüglichen Register zu wichtigen Tagebuchinhalten und den handelnden Personen im Mittelpunkt. Der Leser erhält in einem Ausmaß biographische Informationen, das der Bedeutung der jeweiligen Person für Kessler entspricht. In ihrer Gesamtheit bieten die Register Stellenkommentare zu Orten, Körperschaften und Werken Kesslers sowie nicht zuletzt auch zu erwähnten Periodika und den von Kessler ins Tagebuch eingeklebten Presseartikeln. Wo sich unmittelbar bei der Lektüre Verständnisschwierigkeiten ergeben könnten, helfen erläuternde Fußnoten, die so knapp sind, dass sie manchmal ebenso kryptisch wirken wie der erläuterte Gegenstand. Die Beschränkung scheint gleichwohl ein sehr guter Kompromiss zwischen bloßer Darbietung des Tagebuchtextes und einem unübersehbaren und wie bei manchen anderen Editionen maßlos erscheinenden Editionsaufwand zu sein. Großes Lob ist den jedem Band beigegebenen Einleitungen zu zollen, die der Rezensent stets erst nach der Lektüre der Tagebücher gelesen und als sehr erhellend und anregend empfunden hat. Sie bieten in ihrer Summe eine vorzügliche Biographie Kesslers.

Die Tagebücher liegen in einer Hybrid-Edition vor, die als neuer Typus einer wissenschaftlichen Quellen-Edition bezeichnet wird: zum einen in neun nach allen Regeln der Buchkunst gestalteten schönen Bänden, die mit ihren Umfängen von bis zu 1.270 Druckseiten am Rande der Handhabbarkeit sind, zum anderen in einer digital zugänglichen und durchsuchbaren Edition. So groß das Lob für die Buchausgabe sein muss, so unausgereift ist die im Netz gebotene Version, die für Forscherinnen und Forscher vielleicht noch wichtiger ist, da sie einen schnellen und gezielten Zugang zu den Texten und bestenfalls vielfältigste Suchmöglichkeiten bieten könnte.

Zu kritisieren ist, dass mit dem „Editionsportal EdView Open Access“ offenbar das Rad neu erfunden werden sollte und man damit nicht fertig geworden ist. Jedenfalls fehlt alles, was die Benutzer leiten könnte, hier kann noch nicht einmal von einer Beta-Version gesprochen werden. Abschreckend ist die Umständlichkeit, mit der man dorthin gelangt, wo endlich gesucht werden kann. Es fehlt jegliche Erläuterung, wo und wie gesucht werden kann und muss, wo warum Häkchen und Filter zu setzen sind. Eigentlich ist hier alles exakt so ärgerlich wie bei zahlreichen mit öffentlichen Mitteln finanzierten Katalogen und Digitalisierungen, wo man auf umständlichste, oft quälend langsame Angebote stößt, während private Anbieter es längst geschafft haben, gut und einfach bedienbare Lösungen zu entwickeln.

Nützlich ist oder wäre die Online-Ausgabe bei der gezielten Suche nach Personen, Orten und Sachverhalten jeder Art. Dass Begriffe zuverlässig auffindbar sind, daran muss nach diversen Suchen aber gezweifelt werden. Inzwischen wurde offenbar nachgebessert, denn nachdem sich bei ersten Recherchen die Worte „Polen“ oder „polnisch“ gar nicht finden ließen, obwohl sie in den Tagebüchern oft eine überragende Rolle spielen (Zugriff 18.09.2020), sind es inzwischen ein halbes Tausend Funde (Zugriff 20.10.2020). Ärgerlich ist ein solches unausgereiftes Rechercheinstrument natürlich besonders für einen Rezensenten, der bei seinem Umgang mit einem solchen Werkzeug eigenes digitales Analphabetentum nie ganz auszuschließen vermag. Doch auch die Bitte an versiertere Kolleginnen und Kollegen, die Suchinstrumente auszuprobieren, führte zu keinem anderen Ergebnis: Eine für die Forschung so nützliche Dienstleistung, wie sie eine Hybrid-Edition verspricht, wird für den digitalen Teil nicht erbracht. Es wäre dringend zu wünschen, dass noch einmal Arbeit in eine Präsentation und Umsetzung investiert wird, die der vorzüglichen Edition und dem hohen materiellen Aufwand für das Editionsprojekt würdig ist.

Zum Abschluss sei darauf hingewiesen, wie unendlich überlegen die gedruckte Version des Tagebuchs als Lesetext gegenüber der Online-Version ist. Hinzu kommt, dass bei einer lediglich digitalen Edition nach Erfahrung des Rezensenten bereits ein einziger Serverwechsel ausreichen kann, um die Ergebnisse großer Mühen von zahlreichen Bearbeitern in den digitalen Orkus zu befördern. Künftige Editoren sollten nicht auf den Gedanken kommen, auf Buchausgaben ganz zu verzichten. Für die hier vorliegende jedenfalls kann kaum ein Lob groß genug sein.